Erste Förderphase

RABE

Differentialdiagnostische Relevanz des Arbeitsgedächtnisses für Kinder mit umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (Verbundvorhaben)

Das Projekt RABE (Differentialdiagnostische Relevanz des Arbeitsgedächtnisses bei Kindern mit Lernstörungen) beschäftigt sich mit den kognitiven Ursachen von Lernstörungen. Im Fokus stehen isolierte Lernstörungen im Lesen, im Rechtschreiben und im Rechnen sowie die Lese-Rechtschreibstörung und die kombinierte Lernstörung schulischer Fertigkeiten. In der einschlägigen Literatur hat sich insbesondere das Arbeitsgedächtnis-Modell von Baddeley als nützlich erwiesen, Besonderheiten in der kognitiven Informationsverarbeitung von Kindern mit Lernstörungen aufzudecken. Nach Baddeley (2002) steuert und reguliert das Arbeitsgedächtnis das kurzfristige Bewussthalten sowie Verarbeiten von Informationen und spielt eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Lernstörungen.
Zurzeit fehlt es an Studien, die mit Hilfe eines längsschnittlichen Designs intraindividuelle Veränderungen im Arbeitsgedächtnis von Kindern mit Lernstörungen analysieren. Darüber hinaus ist noch zu wenig über die einzelnen Funktionsbereiche des Arbeitsgedächtnisses und ihre Rolle bei der Entstehung von unterschiedlichen Formen von Lernstörungen bekannt. Das Projekt RABE versucht diese Lücke zu schließen, indem es die Entwicklung der Arbeitsgedächtnisfunktionen von Grundschulkindern mit verschiedenen Lernstörungen untersucht.

Ziel des Projektes

Das Projekt untersuchte die differentialdiagnostische Relevanz des Arbeitsgedächtnisses für Kinder mit umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Eine differenzierte Betrachtung der einzelnen Funktionsbereiche des Arbeitsgedächtnisses und ihrer Einflüsse auf die Entwicklung von Lernstörungen waren daher das primäre Anliegen des Projektes. In diesem Zusammenhang wurde u.a. folgenden Fragestellungen nachgegangen:
Lassen sich Kinder, die von unterschiedlichen Lernstörungen betroffen sind, anhand spezifischer Arbeitsgedächtnismuster voneinander abgrenzen?

Lassen sich systematische Unterschiede im Entwicklungsverlauf des Arbeitsgedächtnisses zwischen Kindern feststellen, die ihre Lernstörungen erfolgreich überwinden und solchen, denen dies nicht gelingt?

Die genauere Kenntnis der störungsspezifischen Beeinträchtigungen und ihrer Entwicklungsverläufe ermöglicht eine eindeutigere Diagnostik und kann mittelfristig zur Entwicklung wirksamer Förderprogramme beitragen.

Forschungsdesign & Untersuchungsmethoden

Das Projekt RABE wurde in einem längsschnittlichen Design umgesetzt. Es wurden Kinder untersucht, die in einem oder mehreren Lernbereichen Schwierigkeiten zeigen. Dabei wurde zwischen Kindern unterschieden, bei denen die schulischen Minderleistungen eine deutliche Diskrepanz zur allgemeinen Lernfähigkeit aufweisen und solchen, bei denen diese Abweichung geringer ausfällt. Als Vergleichsgruppe wurden auch Kinder in die Studie aufgenommen, die keine Schulleistungsprobleme zeigten. Alle Kinder befanden sich zu Beginn der Studie in der dritten Klasse. Über zwei Jahre wurden sie in halbjährlichen Abständen hinsichtlich ihrer Schulleistungen und ihrer Arbeitsgedächtnisfunktionen untersucht.

Bisherige Ergebnisse

RABE hat sich mit Fragen zur Prävalenz, zur Komorbidität und Differentialdiagnostik von Lernschwierigkeiten beschäftigt. Unsere bisherigen Befunde lassen sich in folgende große Forschungsbereiche einteilen:

Wie häufig treten Lernschwierigkeiten in der Grundschule auf? [1]

RABE hat aktuelle Prävalenzraten zum Auftreten von Lernschwierigkeiten in der Grundschule erhoben: Es wurden die Lese-, Rechtschreib- und Rechenfertigkeiten von 2195 Grundschülern aus unterschiedlichen Bundesländern mithilfe von standardisierten Schulleistungstests untersucht. Die Ergebnisse zeigten, dass nahezu ein Viertel aller Kinder (23.3 %) in einem oder in mehreren Schulleistungsbereichen Lernschwierigkeiten zeigt. Etwas mehr als die Hälfte der Kinder mit Lernschwierigkeiten erfüllt die diagnostischen Kriterien für eine schulische Teilleistungsstörung nach dem internationalen Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10). Diese Zahl der Kinder, die von einer Teilleistungsstörung (13.3%) betroffen sind, liegt deutlich über der bisher angenommenen Prävalenzrate von 3% bis 8%. Die in der ICD-10 nicht gesondert aufgeführte isolierte Lesestörung tritt dabei genauso häufig oder häufiger auf als andere im ICD-10 aufgeführte Lernstörungen. Dies ist von besonderer Bedeutung, da die isolierte Störung der Leseleistung bisher nicht im Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) aufgeführt ist.

Wie hoch ist die Komorbidität zwischen Lernschwierigkeiten und ADHS? [2]

Aufgrund der Beobachtung, dass bei Kindern mit Lernschwierigkeiten häufig auch Beeinträchtigungen in der Aufmerksamkeitssteuerung sowie eine vermehrte Hyperaktivität und Impulsivität auftreten, bestand ein weiteres Ziel in der Bestimmung der Komorbiditätsraten von einzelnen Lernschwächen/-störungen und ADHS. Während nur ca. 5% der Kinder ohne Lernschwierigkeiten sowie der Kinder mit isolierter Rechenschwäche/-störung von einer ADHS betroffen sind, gilt dies für etwa 20% der Kinder mit Lernschwächen und -störungen in der Schriftsprache und der Kinder mit unterdurchschnittlicher Intelligenz. Bei den lernbeeinträchtigten Kindern findet sich zudem ein zwei- bis vierfach erhöhtes Risiko für eine komorbide ADHS bei Jungen im Vergleich zu Mädchen. Die erhöhten Komorbiditätsraten finden sich v.a. zum unaufmerksamen Typus, nicht aber zum hyperaktiv-impulsiven bzw. zum Mischtypus nach DSM-IV.

Lernstörungen in der Schriftsprache:

a) Zur differentialdiagnostischen Relevanz des Arbeitsgedächtnisses für Kinder mit Schriftsprachstörungen [3]

Ein wesentliches Ziel von RABE bestand darin, die störungsspezifischen Arbeitsgedächtnisprofile zu untersuchen. D.h. wir sind der Frage nachgegangen, ob unterschiedliche Lernstörungen auch mit unterschiedlichen Arbeitsgedächtnisprofilen einhergehen. Die in diesem Bereich bereits vorhandenen Forschungsergebnisse von Untersuchungen zur Lese- und Rechtschreibstörung konnten von uns vertieft und erweitert werden: Während Kinder mit Leseschwierigkeiten primär zentral-exekutive Arbeitsgedächtnisbeeinträchtigungen zeigen, gehen Rechtschreibschwierigkeiten deutlicher mit phonologischen Speicherdefiziten einher. Dieses Ergebnis zeigt, dass es wichtig ist, zwischen Lernschwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben zu trennen und nicht – wie in vielen deutschen Studien bisher üblich – Auffälligkeiten in beiden Leistungsbereichen als Varianten derselben Lernstörung aufzufassen.

b) Die Bedeutung der IQ-Diskrepanz [4]

Seit langem ist das IQ-Leistungsdiskrepanzkriterium und somit die Unterscheidung zwischen Lernschwächen und -störungen umstritten, da bisher trotz intensiver Bemühungen selten ätiologische und symptomatische Unterschiede zwischen diesen Kindern aufgedeckt wurden. Über Unterschiede in den Arbeitsgedächtnisbeeinträchtigungen ist im deutschen Sprachraum hingegen kaum etwas bekannt. Daher hat RABE zusätzlich zu Kindern mit Lernstörungen auch Kinder untersucht, die zwar vergleichbar schwache Schulleistungen aufwiesen, aber darüber hinaus die IQ-Diskrepanz nicht erfüllten. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Arbeitsgedächtnisfunktionen von Kindern mit Lernschwächen und Lernstörungen in der Schriftsprache meist vergleichbar ausgeprägt sind. Diese Befunde stellen die Nützlichkeit des IQ-Diskrepanzkriteriums – zumindest für Schriftsprachstörungen – in Frage und unterstützen nicht die Auffassung, schriftsprachlichen Minderleistungen nur dann einen Störungswert beizumessen, wenn sie in deutlicher Diskrepanz zum allgemeinen Lern- und Leistungspotenzial des Kindes stehen.

Lernstörungen in Mathematik [5]

Bisherige Befunde zu Arbeitsgedächtnisfunktionen von Kindern mit Rechenschwierigkeiten ergeben ein heterogenes Bild. Um mögliche Ursachen dieser heterogenen Befundlage zu untersuchen, ging RABE der Frage nach, ob die IQ-Leistungsdiskrepanz und zusätzliche Lese-Rechtschreibschwierigkeiten mit den Arbeitsgedächtnisfunktionen von Kindern mit Rechenschwierigkeiten zusammenhängen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Nichterfüllen der IQ-Leistungsdiskrepanz mit Defiziten im statisch-visuellen Notizblock einhergeht, während zusätzliche Lese-Rechtschreibschwierigkeiten mit zentral-exekutiven Funktionsdefiziten in Aufgaben mit verbalem Material einhergehen. Letzteres trifft allerdings lediglich auf die Kinder zu, die eine IQ-Leistungsdiskrepanz aufweisen. Zusammenfassend legen die Ergebnisse nahe, dass sowohl die IQ-Leistungsdiskrepanz als auch zusätzliche Lese-Rechtschreibschwierigkeiten mit den Arbeitsgedächtnisfunktionen von Kindern mit Rechenschwierigkeiten zusammenhängen.

Das akademische Selbstkonzept von Kindern mit Lernschwierigkeiten[6]

Andauernde schulische Misserfolgserlebnisse können zu einem geringeren akademischen Selbstkonzept führen. Unklar war bislang, ob sich umgrenzte Lernschwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder in Mathematik generalisiert auf die schulische Selbstkonzeptentwicklung auswirken oder ob sie sich nur in den spezifischen Bereichen des Selbstkonzeptes niederschlagen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass Kinder mit Lernschwierigkeiten nur in dem Selbstkonzeptbereich niedrigere Selbsteinschätzungen angeben, in dem auch niedrige Lernleistungen erbracht werden. Die Kinder unterscheiden dabei allerdings nicht sehr stark zwischen ihren Fertigkeiten im Lesen und Rechtschreiben, d. h. auch bei isolierten Schriftsprachschwierigkeiten werden beide Selbstkonzeptbereiche gleichermaßen schwach eingestuft. Dieses Ergebnismuster bleibt trotz abnehmender Selbstkonzeptbeurteilungen im Rechtschreiben und Rechnen über beide Messzeitpunkte konstant bestehen, so dass die Kinder über ein differenziertes Bild ihrer eigenen Stärken und Schwächen zum Ende der Grundschulzeit verfügen.

Kontakt

  • Prof. Dr. Marcus Hasselhorn (Projektleitung, Goethe-Universität Frankfurt am Main …)
  • Prof. Dr. Claudia Mähler (Projektleitung, Stiftung Universität Hildesheim …)
  • Prof. Dr. Gerhard Büttner (Projektleitung, Goethe-Universität Frankfurt am Main …)
  • Prof. Dr. Dietmar Grube (Projektleitung, Carl von Ossietzky Universität …)